Die Kunst der Zeichnung

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Die Grundfrage, die sich bei jeder Zeichnung stellt und die man als Künstler und Zeichner verstehen muss:
Was macht eine künstlerische Zeichnung aus, was unterscheidet sie von einer laienhaften Arbeit?
Am deutlichsten erkennt man diesen Unterschied an jenen Zeichnungen, die nach einer Fotovorlage entstehen, gemeint im Sinne einer möglichst exakten Kopie. Der Denkfehler des Laien besteht darin, dass er versucht das Foto zu kopieren, die weiche Tönung übernimmt, in seine Zeichnung überträgt, indem er den Graphitauftrag zu stark verwischt und meist Bleistifte von unzulänglichem Härtegrad verwendet (in der Regel nur einen Härtegrad).
Einer solchen Zeichnung fehlt die Kontur, der Ausdruck, die Lebendigkeit. Was dabei herauskommt ist die Kopie eines Fotos, jedoch keine künstlerische Zeichnung und kein künstlerischer Wert.

Künstlerischen Wert hat eine Zeichnung, wenn die folgenden Kriterien erfüllt sind:


Kriterium 1 - starke Kontraste sind vorhanden (etwa durch Erhöhung mit Weiß)
Kriterium 2 - Schwerpunkte sind gesetzt worden, d.h. die wesentlich ausdrucktragenden Bereiche sind betont, die unwesentlichen sind eher angedeutet
Kriterium 3 - anstelle des Verwischens (Weichzeichnens) werden Schraffuren oder stark betonte Linien verwendet (getöntes Papier als Grundtönung ist hier interessant)
Kriterium 4 - Begrenzungslinien von Figuren oder Gegenständen werden durch Schraffuren gebrochen, d.h. die Linie durch die eine Grenzfläche zwischen hell und dunkel entsteht

Neben diesen eher technischen Kriterien ist das eigentlich Entscheidende jedoch das Einfühlungsvermögen des Künstlers in das Wesen des Menschen, den er darstellt!

Man sollte diese Kriterien jedoch nicht als zwanghaft einzuhaltende Regeln sehen, höchstens als hinweisende Richtlinien zur „guten Zeichnung“. Technisch wichtig ist:
Man sollte vermeiden ausschließlich zu verwischen, um die Tönungen anzulegen. Wenn das Verwischen für eine Grundtönung angebracht ist, sollte man in jedem Fall eine Schraffur darüberlegen, um mehr Struktur und Lebendigkeit zu erzeugen, die Zeichnung für das Auge interessanter zu machen. Bei sehr stark reduzierten und ausdrucksstarken Zeichnungen sollte man sich auf Linien beschränken (keine Schraffur und niemals verwischen).
Man sollte nicht jedes einzelne Detail - weder im Vorder-, und vor allem im Hintergrund zu genau ausarbeiten - vielmehr sollte man den Hintergrund andeuten und zum Fokus der Zeichnung hin die Ausarbeitung der Details (Detailtiefe) erhöhen und dort die stärksten Kontraste setzen.
Man sollte falsche Linien stehen lassen, zeigen sie doch den lebendigen Vorgang des Herantastens an die Bildidee, also nicht zu viel wegradieren - natürlich ist das davon abhängig, welchen Charakter man der Zeichnung verleihen will. Die Zeichnung gewinnt dadurch an Lebendigkeit und das Auge sucht sich immer die richtigen Linien bei der Betrachtung und folgt diesen. Lebendigkeit entsteht dadurch, dass man den lebendigen Werdeprozess mit den Augen verfolgen, nachvollziehen kann.

Ein Laie beurteilt ein Kunstwerk nach dem Realitätsgrad, dem Maß an Fotorealismus, der Künstler anhand des Ausdrucks, der künstlerischen Handschrift als individuell einzigartigem Ausdrucksgeber.
Speziell beim Porträt geht es ja in der Kunst nicht um das rein fotorealistische Abbilden, sondern das Einfangen des Wesens eines Menschen. Im Idealfall interagiert man mit dem Modell in einer Art Dialog, wobei sich die wahrgenommenen Schwingungen seines Charakters, die Höhen- und Tiefenzüge seismografisch von der Hand auf das Papier übertragen.
Beim Zeichnen nach einer Fotovorlage sollte man sich ebenso auf deren wesentliche Charakteristika beschränken, Unwesentliches weglassen oder dieses lediglich andeuten, im Hintergrund sich verlieren lassen.

Ich denke aber, dass Abbilden oder Interpretieren letztlich Zwischenstufen oder Vorstufen sind zu eigener künstlerischer Gestaltung, die auf inneren Ideen, Bildern beruht - aufbauend auf einem durch Erfahrung gewonnen, eigenen inneren Fundus an Formen und Gestalten und den passenden Darstellungstechniken.

Das Grundhandwerk des Zeichnens, ebenso wie Grundkenntnisse der Anatomie muss man hierzu hinreichend beherrschen, damit das Dargestellte stimmig wirkt. Auf dieser Grundlage beginnt das eigentliche Spiel mit Formen und Linien, um die Idee in die bestmöglichen Formen zu kleiden. Die Anatomie muss hier nicht wissenschaftlich exakt sein, sondern stimmig!
So besteht künstlerisches Gestalten letztlich darin, seine ureigene Ausdrucksform zu finden, um seine inneren Bilder adäquat auszudrücken.

Doch genug der Theorie. Schauen wir uns einfach ein paar Meisterzeichnungen an (diese Auswahl ist natürlich subjektiv, zeigt jedoch die aus meiner Sicht wesentlichen Kriterien einer "künstlerischen Zeichnung"). Die von mir oben erwähnten Kriterien wollen wir bei der Betrachtung lediglich im Hinterkopf behalten, denn es geht nicht darum ein totes, unlebendiges Schema zu befolgen, sondern "lebendige" Zeichnungen zu erstellen.

Ich habe die folgenden Zeichnungen bewusst nicht kategorisiert, sondern betrachte jede einzeln!

Nebenbei erwähnt sind meine persönlichen Favoriten: Egon Schiele, Käthe Kollwitz, Rembrandt und Holbein..

Egon Schiele - "Poldi"

Egon Schiele - "Poldi"

Das ist die aus meiner Sicht lebendigste Art der Zeichnung. Sie geht nicht von anatomischen Kenntnissen aus - der Stift folgt einfach dem, was das Auge sieht. Offensichtlich ist die Zeichnung nach einem lebenden Modell entstanden. Wichtig hierbei ist, sich mehr auf das Gesehene, denn auf die Zeichnung zu konzentrieren, das bedeutet: fehlerhafte Linien stehen zu lassen, nicht zu denken (an anatomische Korrektheit), sondern einfach sich gehen zu lassen, mit dem Stift den wahrgenommenen Linien des Modells zu folgen. Man folgt den gesehenen, empfundenen Linien des Modells und schaut nicht ständig auf das Papier, um zu kontrollieren, zeichnet also teilweise "blind".

Käthe Kollwitz

Käthe Kollwitz

Das Interessante an dieser Zeichnung ist das Setzen eines Fokus - hier ist es der Gesichtsausdruck. Alles drum herum, der Körper, die Arme, sind angedeutet und nicht exakt ausgearbeitet im Sinne anatomischer Korrektheit - großartig!

Das Auge des Betrachters sucht und findet in dem Gewirr der Linien das Wesentliche - den Gesichtsausdruck, die Empfindung der Frau. Unterstützt oder gelenkt wird diese Wahrnehmung auch durch einen (eher intuitiv) wohl gesetzten Hell-Dunkel-Kontrast, wobei das relative Dunkel der Körperform und des angrenzenden Hintergrundes das Hell des Gesichts, der Empfindung umso stärker hervortreten lässt.

Albrecht Dürer

Albrecht Dürer

In Dürers Zeichnung seiner Mutter dominieren ein wenig die Linien, vielleicht um das Alter (die Falten) darzustellen. Kontraste sind durch unterschiedlich kräftige Linien in Kopftuch und Kleid angedeutet, Kopf und Hals sind modelliert, wirken plastischer durch die Schraffur und möglicherweise leichte Verwischungen (ist an der Reproduktion nicht klar auszumachen). Die Frau wirkt lebendig - ihr Wesen ist fühlbar.

Cornelis Visscher

Cornelis Visscher

Die Zeichnung von Cornelis Visscher wirkt sehr weich und verwendet ebenso Hell-Dunkel-Kontraste um das Wesentliche herauszuheben. Nuancen bzw. Oberflächenstrukturen sind durch Schraffuren herausgearbeitet, teilweise - wie am Kragen ersichtlich durch feste Linien. Die Frau wirkt etwas in sich gekehrt und niedergeschlagen, vielleicht auch altersmüde ...

Rembrandt hat ja einige wunderschöne Tuschestudien seiner Frau "Saskia" angefertigt, die mich immer wieder beeindrucken. Bei der obigen Zeichnung ist das Verhältnis von Binnenform (der Figur) zur Umform (dem Raum) das Meisterstück. Der dunkle Umraum mit der modelllierten Andeutung von Wand und Sitztruhe umschliesst die helle Binnenform und lässt den Körper umso stärker hervortreten, ebenso die zugehörige Gestik und Mimik der Frau.

Der Moment, die Stimmung wird auf großartige Weise eingefangen in seiner Weichheit - denn feste, starke Linien fehlen und sie würden die intime Stimmung auch (zer-)stören.

Holbein - Anne Boleyn?

Holbein - Anne Boleyn?

Bei Holbein dominieren die scharfen (aber nicht zu harten) Linien, habe ich den Eindruck. Auch hier ist das Wesentliche - der Kopf, der Charakter, ablesbar am Gesichtsausdruck, am stärksten ausgearbeitet, durch klare Linien betont, die Körperform angedeutet und somit ein Fokus gesetzt. Die Abgrenzung der Gesichtskontur erfolgt durch scharfe Linien und nicht durch einen flächigen Hell-Dunkel-Kontrast.

Holbein - Bishop Fisher

Holbein - Bishop Fisher

Hier sehen wir das gleiche "Schema" in Anwendung, linien-dominierte Nuancierung des Wesentlichen, noch etwas ausdrucksstärker fast als bei Anne Boleyn, vielleicht war Bishop auch "ausdrucksstärker" vom Charakter her - sein kantiges Kinn spricht dafür ...

Antony van Dyck

Antony van Dyck

Auch van Dyck verwendet die linienbetonte Darstellung, wobei seine Linien (die Gesichtskonturen) nicht ganz so scharf sind, eher etwas weicher, dem Wesen der dargestellten Person entsprechend.

Zu dieser Zeichnung muss man gar nicht viel sagen. Modelliert, konturiert und kontrastiert wird hier mit Schraffuren und klaren Linien (beim Haar). Es ist für mich einfach unglaublich mit welcher Sensibilität Käthe Kollwitz Menschen darstellt, sie muss ihr Wesen wirklich stark empfunden haben. In der obigen Zeichnung ist einer ihrer Söhne beim Lesen, wohl abends im Bett liegend, dargestellt.

Käthe Kollwitz

Käthe Kollwitz

Der Mann in dieser Zeichnung wird vom Tod gerufen und seine Körperformen beginnen sich aufzulösen, Körperlichkeit zu ätherisieren wie es scheint, dargestellt durch sehr weiche, nuancierte Linien.

Käthe Kollwitz

Käthe Kollwitz

Als ich vor Jahren im Krankenhaus lag, war im Bett zur Tür hin ein alter Mann einquartiert, der wohl im Sterben lag und die ganze Nacht hindurch stöhnte. Seltsamerweise sah er dem Mann auf der obigen Zeichnung sehr ähnlich...
Ich denke mir, gerade das Nahen des Todes ist einer der Vorgänge, der für einen Künstler am schwierigsten darzustellen ist. Man kann die gängigen Allegorien, wie den Sensenmann verwenden, aber den Gesichtsausdruck beim "Hinübergehen" einzufangen ist eine unglaubliche Fähigkeit...

Es dominiert die weiche Darstellung, ohne zu harte Linien, der Übergang ins Dunkle, vom Leben zum Tod.

Luca Signorelli

Luca Signorelli

Zur Abwechslung wieder eine Charakterstudie:
Klare Linien der Gesichtszüge, schwach- bzw. dünnlinige Andeutung des Unwesentlichen aber notwendigen (Kopfbedeckung und Hemd) und Hell-Dunkel-Kontrast um die Gesichtskontur zu betonen.

Kollwitz

Kollwitz

Auch hier ein aus meiner Sicht besonderer zeichnerischer Kunstgriff:

Kopf und Hände sind hervorgehoben (es handelt sich vermutlich um einen Geistlichen) - durch scharfe Linien und flächenhafte Modellierung, wie es mit Zeichenkohle machbar ist.

Der Körper bzw. der Kragen ist kaum wahrnehmbar und dient in seiner Andeutung lediglich der Verbindung von Kopf und Händen, um die Figur in ihrer Ganzheit anzudeuten und die Zeichnung somit stimmig zu machen.

Hier wird ein Zustand der Verzweiflung meisterhaft zeichnerisch dargestellt durch starke linienhafte Betonung der stimmungstragenden Gesichtszüge. Käthe Kollwitz hat ja zur Zeit der Industrialisierung zum Ende des 19. Jahrhunderts gewirkt und viele Modelle in der Praxis ihres Mannes gefunden, der Arzt war. Menschliches Leid war offensichtlich ihr "Thema", das sie wie kein Anderer bzw. keine Andere darzustellen vermochte.

Kollwitz

Kollwitz

Fast verschwommene Andeutung von Kleidung und Körperhaltung, dagegen durch sehr intensiven Hell-Dunkel-Kontrast betonte Gesichter, Leidensform oder der Ausdruck derselben.

Auch hier beachte man den Hell-Dunkel-Kontrast, fast ausschließlich durch (Schraffur-)Linien geschaffen und herausgearbeitet.

Gedrungenheit, Schutzsuchen, vielleicht kurzfristige Geborgenheit und auch Angst - genau und ausschließlich das ist hier betont und vom angedeuteten Umraum verstärkt und getragen!

Egon Schiele

Egon Schiele

Wunderschön in ihrer Einfachheit und Stimmung auch die Zeichnung von Schiele - zwei schlafende Kinder sind hier dargestellt - linienhaft. Auch hier führen einzig die Konturlinien das Auge und sie fangen die Stimmung, das Wesen der Dargestellten, bestmöglich ein.

Tintoretto

Tintoretto

Will man eine Zeichnung plastisch gestalten, so kann man diese auf getöntem Papier anlegen und die vom Licht bestrahlten Stellen mit "Weiß" hervorheben. Die dadurch entstehenden Hell-Dunkel-Kontraste schaffen eine sehr gute Plastizität, wie man bei der Zeichnung von Tintoretto sehen kann.

Gustav Klimt

Besonders schöne Zeichnungen, die den Regeln einer guten, wenn nicht meisterlichen, Zeichnung genügen, findet man bei Gustav Klimt

Zu guter Letzt

Zum Abschluss noch eine meiner eigenen Zeichnungen, die ich vor vielen Jahren angefertigt habe und die ich zumindest als sehr stimmungsvoll empfinde und die auch den hier geschilderten Kriterien genügt. Das Anwenden dieser Kriterien ist nicht nur den großen Künstlern vorbehalten - man benötigt aber ein gehöriges Maß an Einfühlungsvermögen (in das Wesen des dargestellten Menschen)

Nachwort

Es heißt ja: "Kunst kommt von Können". Das Können ist jedoch lediglich eine Voraussetzung, die sich auf die handwerklich zu erlernenden Ausdrucksformen bezieht. Ebenso auf die dazu notwendigen Mittel und Werkzeuge. Jede künstlerische Darstellung einer Stimmung, eines Charakters, einer Landschaft verlangt nach der ihr angemessenen Ausdrucksform, die ihr Wesen am unmittelbarsten ausdrückt, wahrnehmbar macht.
Je mehr Ausdrucksformen (Aquarell, Öl, Radierung usw.) man also beherrscht, desto besser kann man seine Eindrücke und Wahrnehmungen, das Wesenhafte und Wesentliche des Darzustellenden, ausdrücken.
"Kunst" ist die Fähigkeit das Wesentliche zu erkennen, seelisch zu empfinden und zugleich die wesensgemäße Ausdrucksform zu finden und zu verwenden.

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